Warum der Umgang mit KI gerade gefährlich unkritisch wird

Es gibt Filmszenen, die mehr über menschliches Verhalten offenbaren als viele psychologische Lehrbücher. Eine davon stammt aus „Das Leben des Brian“. Brian hält gerade eine chaotische, improvisierte Rede – nicht, weil er sich für einen Propheten hält, sondern um die römischen Wachen abzulenken. Die Rede endet plötzlich, die Soldaten ziehen weiter, und Brian nutzt die Gelegenheit, um zu flüchten. Zuvor hatte er einem mittellosen Mann eine leere Flasche geschenkt. Eine beiläufige, menschliche Geste ohne Hintergedanken. Doch die verzweifelte Menge, die nach Bedeutung sucht, interpretiert diese Handlung völlig anders. Sie nimmt die Flasche an sich und macht sie zur heiligen Reliquie. Von diesem Moment an folgen die Menschen Brian nicht mehr. Sie folgen der Flasche.

Diese Szene wirkt heute erstaunlich vertraut, wenn man beobachtet, wie über KI gesprochen wird. Dazu gehören u.a. Microsoft Copilot und die Flut an agentenbasierter Ankündigungen rund um die Ignite 2025. Was einmal nüchterne Technologie war, wirkt zunehmend wie eine Erzählung, die weniger von fachlicher Einordnung und mehr von Erwartungsprojektion lebt.

Vom Werkzeug zur Erzählung – Wie sich das KI-Narrativ verschoben hat

Vor etwas mehr als einem Jahr habe ich im Granikos-Blog über die Chancen und Risiken von KI geschrieben. Damals war der Konsens klar umrissen. KI ist ein Hilfsmittel. Ein Assistenzsystem, das uns unterstützt, aber nicht ersetzt. Ein Copilot, der als erster Offizier neben uns im Cockpit sitzt, während wir den Kurs bestimmen.

Heute hat sich diese Perspektive spürbar verändert.

Im „Agentic Year“ hat Microsoft auf der Ignite 2025 KI-Agenten zum zentralen Element erklärt. Das Book of News enthält 426 Erwähnungen des Begriffs „Agent“. Dies ist keine bloße rhetorische Übertreibung, sondern eine grundlegende Neuausrichtung. Fast alle Produkte und Dienste im Microsoft-Ökosystem sollen künftig KI-Agenten integrieren. Zudem soll es jeder Person, unabhängig von technischem Wissen, möglich sein, eigene KI-Agenten zum Leben zu erwecken. KI wird nicht nur Informationen liefern, sondern auch Prozesse steuern, Entscheidungen vorbereiten und eigenständig handeln.

Das Potenzial ist enorm. Aber je größer ein Schritt nach vorne ist, desto mehr Seitenblick braucht er. Und genau dieser Seitenblick fehlt in der aktuellen Diskussion zunehmend.

Wenn MVPs zu Multiplikator:innen werden – statt zu Kritiker:innen

Ich schreibe diesen Artikel bewusst aus der Perspektive eines Microsoft MVP, einer Rolle, die auf Fachwissen, kritischem Denken und unabhängiger Beurteilung beruht. Wir sollten diejenigen sein, die Innovationen bewerten, Risiken erkennen, Chancen aufzeigen und genau dann kritisch bleiben, wenn Euphorie Fakten überlagert.

Der Trend, den ich in Teilen der Community sehe, ist umso irritierender.

Viele Beiträge in sozialen Netzwerken wirken manchmal eher wie unreflektierte Weitergabe von Marketingbotschaften, statt eine unabhängige Analyse zu bieten. Funktionen werden häufig gelobt, noch bevor sie wirklich verstanden werden. Ankündigungen werden geteilt, ohne dass man sich wirklich fragt, welchen echten Nutzen sie haben. Eine kritische Bewertung kommt oft zu kurz oder findet kaum statt.

Begeisterung ist etwas Wunderbares, weil sie Motivation und Energie bringt. Aber natürlich ist es auch wichtig, dabei eine gesunde Distanz zu bewahren. Wenn wir Innovation nur weitergeben, ohne sie richtig einzuordnen, könnten wir versehentlich unsere Rolle als fachkundige Ansprechpersonen verlieren.

Wenn der Copilot plötzlich selbst steuert

Das ursprüngliche Copilot-Versprechen lautete: „Du bleibst im Pilotensitz, Copilot unterstützt dich.“
Das war klar, verständlich und realistisch.

Doch in der Praxis hat sich die Rollenverteilung verändert.

Die neuen agentenbasierten Funktionen sind spannend, da sie tief in die Arbeitsprozesse eingreifen – manchmal so tief, dass es schwer ist zu erkennen, welche Handlungen von der Nutzerin oder dem Nutzer stammen und welche von der KI. Verschiedene Copilot-Implementierungen in Word, Excel, Outlook oder Teams folgen unterschiedlichen Ansätzen. Begriffe sind nicht einheitlich, Features variieren, und die Funktionsweise wirkt etwas uneinheitlich, doch das macht die Nutzung umso interessanter.

Für viele wirkt das System nicht mehr nur unterstützend, sondern scheint aktiv mitzusteuern, was bei manchen Unsicherheiten auslöst. Man fragt sich: Wer hat eigentlich die Kontrolle? Wer legt den nächsten Schritt fest? Und wer trifft letztlich die Entscheidung?

Wenn ein Assistenzsystem beginnt, eigene Impulse zu setzen, verschiebt sich das Vertrauen. Und zwar schnell.

Admins im Dauerlauf – Wenn Innovation zur Überforderung wird

Während sich manche in der Community vor Begeisterung kaum setzen können, sehen IT-Verantwortliche einer ganz anderen Realität entgegen. Die Evergreen-Strategie von Microsoft bringt seit Jahren immer wieder neue Veränderungen mit sich. Buttons verschieben sich, Menüs verändern sich, und Features kommen und gehen. Dieser Rhythmus ist schon ziemlich herausfordernd.

Mit Agentic AI wird er jedoch zu einem Sprint.

Neue Funktionen erscheinen im Wochentakt. Manche angekündigt, andere unvermittelt. KI-Funktionen greifen tief in Sicherheit, Governance und Compliance ein. Autonome Prozesse können Auswirkungen auf Arbeitsabläufe haben, die weit über UI-Veränderungen hinausgehen.

Verantwortliche in Unternehmen stellen sich immer weniger die Frage:

„Wie viel KI wollen wir?“
sondern:
„Wie viel Veränderung können wir überhaupt verkraften?“

Diese Frage ist legitim. Und sie verdient eine ehrliche Antwort.

Der Verlust der Mitte – und warum er gefährlich ist

Die größte Gefahr ist nicht KI selbst.
Sie liegt im Verlust der Balance.

Auf der einen Seite erleben wir ein begeistertes Narrativ, das KI als unentbehrliche Lösung für die Zukunft darstellt. Auf der anderen Seite stehen die Menschen, die die Folgen dieser Entwicklungen tragen müssen, sei es fachlich, technisch oder rechtlich. Es ist wichtig, beide Perspektiven zu berücksichtigen, um eine ausgewogene und verantwortungsvolle Diskussion zu führen und die Akzeptanz zu fördern.

Zwischen beiden Polen fehlt zunehmend der Raum für nüchterne Analyse.
Ein Raum, in dem Fragen gestellt werden wie:

Welches Problem löst diese Funktion tatsächlich?
Welche Risiken entstehen für Sicherheit und Governance?
Wie beeinflusst sie die Arbeitskultur?
Wie viel Lernaufwand entsteht?

Und vor allem: Wird diese Funktion wirklich gebraucht, oder wurde sie nur angekündigt, weil sie angekündigt werden konnte?

Das sind keine Fragen, die Euphorie zunichtemachen.
Es sind Fragen, die Verantwortung sichtbar machen.

Ein Appell – Weniger Heilsversprechen, mehr kritisches Denken

Die Szene aus Das Leben des Brian ist deshalb ein starkes Bild für den gegenwärtigen KI-Diskurs.

Nicht die Flasche ist das Problem.
Sondern der Wunsch nach Orientierung, der dazu führt, dass jede Geste überhöht wird.

Genau das sollten wir im Umgang mit KI vermeiden.

Wir brauchen wieder Distanz.
Wir brauchen wieder die Bereitschaft, Innovation einzuordnen.
Wir brauchen die Fähigkeit, Technologie ernst zu nehmen, ohne ihr blind zu folgen.

KI ist mächtig.
KI ist hilfreich.
KI wird unseren Arbeitsalltag prägen.

Aber nur dann sinnvoll, wenn wir verstehen, was sie tut.
Und was sie nicht tut.

Wenn wir diese Haltung verlieren, folgen wir nicht mehr der Technologie.
Wir folgen nur noch der Flasche.


Lektoriert mit Hilfe von Grammarly.

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